Zäsur und Barrierefreiheit


In der Zeit von 2011-2013 war ich, für meine Verhältnisse, ungewöhnlich aktiv{{1}}. Ich bin viel herumgereist und war auf kleinen und größeren Veranstaltungen, wie dem Buchcamp, der Buchmesse, dem MXSW oder dem Autismus Symposium von Auticare und habe auch selbst Vorträge oder Workshops gehalten. Dabei habe ich versucht all die Lehren, die ich seit meiner Diagnose gezogen habe und die Strategien, die ich mir in der Therapie angeeignet habe, anzuwenden. Das heißt: versuchen die Balance zu wahren, nie zu viele Veranstaltungen hintereinander, danach mindestens eine Woche einplanen, in der ich nicht leistungsfähig bin, versuchen immer mal inne zu halten und mir die Zeit zu geben, herauszufinden wie es mir wirklich geht, versuchen die Warnanzeichen rechtzeitig zu erkennen, Ruhephasen einzulegen … alles zu tun, um die Überlastung nicht zu groß werden zu lassen{{2}}.

Das hat – natürlich – nur bedingt funktioniert. Das Positive daran: Ich bin nicht wieder in eine Depression gerutscht, wie es bei Überlastung in der Zeit vor meiner Diagnose passiert wäre, weil ich die Warnsignale noch nicht zu deuten gelernt hatte und daher keine Konsequenzen zog. Aber seit Mitte 2014 bin ich den meisten Veranstaltungen, die ich eigentlich gerne besucht hätte, fern geblieben.

Mit daran beteiligt war eine Veranstaltung im April, auf der mir passierte, was ich in den Jahren davor lange vermeiden konnte. Ich bekam, was man auch einen autistischen Meltdown nennt.

In meinem Fall sieht ein Meltdown so aus, dass mir die Tränen kommen (wenn ich mich noch ein bisschen im Griff halten kann) oder ich einfach haltlos heule (wenn das nicht mehr geht), gleichzeitig, manchmal vorher, fange ich an zu zittern. Meine Gesichtsmuskeln fangen an zu zucken, vor allem wenn ich versuchte eine Maske zu lange aufrecht zu erhalten{{3}}. Meine Stimme wird weinerlich. Ich lasse (leider) nicht selten mein ganzes Umfeld daran teilhaben, in dem ich mein Unwohlsein irgendwie ausdrücke. Nur leider sehr roh, ungefiltert und nicht konstruktiv{{4}}. Damit verstöre ich nicht selten oder stosse Menschen ab, die gar nicht verstehen, woher dieser Ausbruch jetzt kommt. Sinnvolle verbale Kommunikation wird mitunter schwierig, weil ich meine Gedanken auch gar nicht aus der belastenden Situation lösen kann, bevor sie nicht beendet ist. Schriftlich geht dann besser, ist aber auch selten konstruktiv, sondern eher weinerlich-wütend.

D

ie Veranstaltung, die diesen Meltdown auslöste, war Offene Archive 2.1 in Stuttgart. Ich hatte mich sehr auf die zwei Tage gefreut, vor allem, weil die Veranstaltung  zuvor, in Speyer, einfach großartig war. Auf der Veranstaltung in Stuttgart, hielt ich es gerade mal eine halbe Stunde aus, bis zum Meltdown, und das kam so:

  1. Es ging mir ohnehin schon nicht so toll. Ich war gestresst und hatte sogar schon überlegt die Veranstaltung sausen zu lassen. Meine Liebe zum Thema hat mich leider das Warnsignal nicht angemessen beachten lassen.
  2. Ich konnte den Veranstaltungsort auf Google Maps nicht genau finden, da die Adressangabe einen größeren Gebäudekomplex bezeichnete und ich nicht erkennen konnte, wo genau ich hin musste.
  3. Wo genau man hin musste, war vor Ort nicht deutlich genug ausgeschildert. Ich bin erst einmal herumgeirrt, bis ich das richtige Gebäude und dort den richtigen Eingang fand.
  4. Als ich mich schließlich angemeldet hatte, war der Saal bereits bis auf den letzten Stehplatz voll. Überquellend voll. Ich wurde auf den Ausweich-Saal im ersten Stock verwiesen in den die Vorträge per Video übertragen wurden.
  5. Es sah für mich so aus, als wäre von dort aus nur eine passive Teilnahme möglich. Es gab im unteren Saal eine Twitterwall, über die man Fragen stellen konnte, aber das erfuhr ich erst später.
  6. Der obere ‚Saal‘ war leider nur der offene Flur zwischen den Räumen und der Treppe. Eher eine Empore. Ein großer Deckendurchbruch verband den ersten Stock mit der darunterliegenden Eingangshalle.
    • Man hörte oben jedes Gespräch im Eingangsbereich, wo sich auch die Anmeldung befand. Ausserdem standen dort Stehtische neben einem Kaffeebuffet, die zwar während des laufenden Vortrags nur spärlich frequentiert waren, aber zur Geräuschkulisse beitrugen.
    • Eine Frau lief ständig mit Absätzen auf dem Steinboden auf und ab. Das Geräusch hallte im 1. OG sehr laut.
    • Oben liefen Menschen zwischen den verschiedenen Räumen hin und her. Türen wurden geöffnet und geschlossen. Es herrschte beständige Unruhe.
    • Die Übertragung aus dem Saal war über die Geräuschkulisse hinweg nur mit Mühe zu verstehen. Konzentriert zuzuhören war, sicherlich auch für Nicht-Autisten und Nicht-ADHSler, nur mit Mühe möglich.
  7. Die Stühle standen ziemlich eng zusammen.
  8. Es gab keine Tische, Ablageflächen oder sonstige Einrichtungen die Notizen machen oder Inhalte twittern erleichtert hätten.
  9. Ich konnte keine bequeme Sitzposition finden, die es mir möglich gemacht hätte, die Aufzeichnung zu verfolgen und dabei Notizen zu machen.

Nach nicht mal einer halben Stunde war ich soweit durch, dass ich mir die Tränen gerade lange genug verkneifen konnte, bis ich meine Sachen zusammengerafft und das Gebäude verlassen hatte. Draussen sackte ich erst mal auf einer Parkbank zusammen und versuchte mich wieder zu fangen. In der Zeit habe ich meinen ganzen Frust über Twitter ausgeschüttet{{5}} was mir im Nachhinein leid tut{{6}}. Daraufhin bekam ich überraschtes und auch sehr mitfühlendes Feedback von Teilnehmern{{7}}, bis hin zu dem Angebot, mir im unteren Raum Platz zu schaffen. Das war sehr toll und möchte den Betreffenden im Nachhinein auch Danke sagen. Es war. denke ich, dennoch die beste Entscheidung von mir, den nächsten Zug nach Hause zu nehmen. Mein Nerven hätten sich nicht mehr ausreichend erholt um dem Programm noch vernünftig folgen zu können.

E

ine neuen Auflag der Veranstaltung findet Ende diesen Jahres in Siegen statt. Das Programm klingt wieder spannend, aber nach den Erfahrungen vom letzten Jahr, bin ich zögerlich. Siegen ist nicht um die Ecke und von dort überstürzt abreisen zu müssen, würde finanziell wie psychisch weh tun.
Ergo muss ich erst mal fragen, ob die Veranstaltung barrierefrei ist und dabei gleich erklären, das Barrierefreiheit nicht nur bedeutet, dass sie für Menschen mit Gehbehinderungen zugänglich ist.
Passenderweise hat Anna gerade heute vor einem Jahr zusammengetragen, was Barrierefreiheit für Autisten bedeutet und dabei auch ein paar Punkte angesprochen, die die Veranstalter in Stuttgart hätten bedenken können. Nicht, weil sie mit Autisten hätten rechnen müssen, sondern weil diese Punkte die Veranstaltung auch für Nicht-Autisten deutlich angenehmer gemacht hätten.

Lärm ist auch für Nichtautisten ungesund. Konzentration ist auch für Nichtautisten anstrengend, wenn die Umgebung laut und unruhig ist. Die Entscheidung die Erweiterung des Zuschauerraums ausgerechnet in einen offenen Durchgangsbereich zu legen, kann ich daher nicht wirklich verstehen.

Auch eine Art kleinen Ruheraum, in dem man ein paar Minuten von der Hektik abschalten könnte, ist sicherlich auch für Nicht-Autisten hilfreich. Wenn so etwas öfter angeboten werden könnte, wäre es toll{{8}}.

Fürs Erste bin ich nun auf die Antwort der Veranstalter gespannt. Dann werde ich entscheiden, ob es für mich ein „Offene Archive 2.2“ gibt, oder ob ich im Dezember doch besser zu Hause bleibe.

[[1]] In meiner Vergangenheit gab es Phasen, in denen ich wochen- bis monatelang das Haus kaum verlassen konnte.[[1]]
[[2]] Ganz ohne Überlastung geht es nicht. Dann dürfte ich schlicht nie das Haus verlassen und müsste jede größere Menschenansammlung meiden. [[2]]
[[3]] Wie ‚lächeln und freundlich schauen‘. [[3]]
[[4]] Mitglieder der Piratenpartei, die am Landesparteitag 2010 in Tübingen teilgenommen haben, werden sich vielleicht an die weinerliche-dramatische Person am Mikrofon erinnern, als es um eine mögliche Verlängerung ging … Ja, das war 5 vor totalem Meltdown.[[4]]
[[5]] Sehr emotional, nicht sehr konstruktiv. Siehe oben. [[5]]
[[6]] Aber Impulskontrolle … also die fehlende.[[6]]
[[7]]… möglicherweise auch von Mitveranstaltern, ich erinnere mich nicht genau.[[7]]
[[8]] Wobei ich es leider schon oft erlebt habe, dass solche ruhigen Inseln dann schnell von kleinen Gruppen okkupiert werden, die etwas in Ruhe und ausserhalb des allgemeinen Trubels besprechen wollen. Wenn man dann darauf pocht, dass der Ruhebereich auch wirklich der Ruhe dient, erntet man meist nur Unverständnis. [[8]]


4 Comments Zäsur und Barrierefreiheit

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  2. Damselle

    Respekt, dass Du es zu so vielen Veranstaltungen geschafft hast! Ich finde es immer wieder schade, wenn ich Vorankündigungen zu interessanten Veranstaltungen sehe, lange mit mir hadere und dann doch nicht gehe – weil ich weiß, dass ich es trotz all der netten Menschen und tollen Themen vermutlich nur ein paar Minuten aushalten würde. Habe das jahrelang konsequent vermieden, aber: bin (mit langem Vorlauf) dieses Jahr zur Republica gefahren. Sehr schön die Möglichkeit zum Early Check-In, da noch alles leer war und die Atmosphäre sehr entspannt.
    Bei der Eröffnungsveranstaltung am nächsten Tag sah das leider ganz anders aus: alles tiefschwarze, riesige und doch beklemmende Räume, überquellend mit Menschenmassen und entsprechender meeresrauschengleichen Geräuschkulisse, punktuell blaues, sehr grelles Licht und unangenehm laute Mikrofone der Sprecher. (Ein bißchen wie in der Voyager-Folge, als Seven of Nine und drei weitere Borg auf einem Planeten stranden und sie die drei zu einem Mini-Kollektiv zusammenschließt – seitdem hören sie sozusagen in einem Ohr ständig laut und deutlich jeden Gedanken der andere beiden als Einzelstimme und im anderen das gesamte Borgkollektiv als millionenstimmigen Chor. Aber ich schweife ab.)
    Ich habe nichts mehr mitbekommen, war aber so stolz, mich die ganze erste Stunde erfolgreich gegen die Tränen und das fast übermächtige Gefühl, einfach nur laut schreien und übergeben zu müssen, gewehrt habe. Danach war ich erstmal reif für den Heimweg. Schade, dabei hatte ich mich so gefreut. Bin dann später nochmal zu einzelnen Veranstaltungen gegangen (wohne recht nahe, was einer der Gründe war, mich für den Besuch zu entscheiden).
    Den zweiten Tag habe ich komplett im Bett verbracht und bin am letzten Tag erst mittags dort aufgeschlagen. Prinzipiell aber eine ganz schlimme Erfahrung. Wie gefährlich für mich war mir gar nicht mehr klar, da es meine erste Veranstaltung dieser Art seit mehreren Jahren war.
    Mein Fazit: nächstes Jahr lieber nur den Livestream und später die Videosendungen genießen. Oder selbst auf die Bühne, da ist man dann wenigstens nicht so in Bedrängnis und kann auch gleich wieder gehen.

    P.S.: Es gab zwar wohl einen Ruheraum, aber nachdem von dort Eltern mit Kleinkindern getwittert haben, hatte man nicht mehr wirklich Lust, diesen zu suchen. Zudem man dann einmal quer durch die große Halle und den gesamten, vollen Innenhof gemusst hätte.

    Toll, dass Du mal beschrieben hast, welche Herausforderung solche Veranstaltungen für manche Leute sind und dass Du trotzdem an so vielen teilgenommen hast. Jemand muss da draußen ja auchmal darauf aufmerksam machen, vielleicht ändert sich bei den Veranstaltern dann auch etwas.

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