Mela liest „Kindersprechstunde“ – Kapitel: Linkshänder


Für meinen, im Entstehen begriffenen, Podcast, lese ich derzeit viel Recherchematerial. Nicht alles davon ist einfach zu verdauen. Und wenn etwas nicht einfach zu verdauen ist, ist Twitter immer noch das beste Ventil.

 

So. Ich will mal wieder nicht alleine leiden, deswegen gibt es einen Thread.

Wie ihr wisst, arbeite ich an einem Podcast. Ja, ich bin _Monate_ hinter meinem eigenen Plan. Aus Gründen. Aber derzeit komme ich wieder in die Gänge.
Plan ist, eine komplette 1. Staffel (a 12 Folgen) fertigzustellen, bevor ich den Podcast veröffentliche. Einfach um zu verhindern, dass ich eine Folge fertig habe und dann kommt nie wieder was.
Daher arbeite ich lieber einmal konsequent an einer Staffel und hab dann erst mal für 6 Monate Folgen produziert.

U.a. plane ich an einer Folge zum Antroposophie und ihren Blick auf Menschen mit Behinderungen.
Als Interviewpartner konnte ich @AnthroBlogger gewinnen, der mir erst mal einen Berg Literaturtipps gab, um mich einzulesen.

Blick auf mein Rechercheregal. (Inzwischen sind noch 5 Bücher dazu gekommen.) Foto eines etwa ein Meter breiten Regalbords, das neben eine
Unter anderem empfahl er mir eben die „Kindersprechstunde“ als maßgebliches Werk, in Bezug auf die antroposophische Einstellung zu Krankheit, sowie kranken und behinderten Kindern. Im Regal seht ihr sowohl die älteste, als auch die jüngste Ausgabe.
Wie man das eben so macht, wenn man mit der Recherche beginnt, habe ich erst mal ins Inhaltsverzeichnis geschaut. Dort fiel mir u.a. das Kapitel „Umweltgifte und Strahlenschutz“ auf.
Okay, die erste Ausgabe stammt aus den 80ern. Tschernobyl, Aufrüstung … ich würde sagen, dass Thema war damals durchaus relevant und hat Eltern Sorgen gemacht.

Allerdings habe ich mir die 17., also die aktuellste Ausgabe vorgenommen. Da wirkt „Strahlenschutz“ anachronistisch.

Diese Aussage ist nicht korrekt. Die aktuellste Ausgabe ist die 20. Ausgabe, die im Jahr 2018 erschienen ist.

Das Kapitel enthält das Unterkapitel „Mobilfunk und Elektrosmog“ und meine Braue wanderte schon mal so Richtung Haaransatz.
Ich schlage das Buch auf und will zu der dort angegebenen Seite blättern. Doch es kommt nicht soweit.
Ich schlage nämlich direkt im Kapitel „Zum Umgang mit der Linkshändigkeit auf“ und bleibe hängen.
Meine Gedanken dabei waren ungefähr „Also, heute wird doch niemand mehr bestreiten wollen, dass das Umerziehen von Linkshändern eine doofe Idee ist, oder? ODER?“
Aber leider steht da nicht eine einzelne Zeile, im Sinne von „Linkshändigkeit ist normal. Keine weitere Diskussion nötig.“ … denn sonst müsste ich auch keinen Thread darüber schreiben. Nein.
Der Einstieg ließt sich schon mal, als würde jemand bemüht um den heißen Brei herum schreiben. „Auch hat sich eine breite Front von Befürwortern des Linksschreibens gebildet aufgrund der langjährigen Forschungs- und Beratungstätigkeit von Barbara Sattler. >>
In manchen Schulen jedoch – insbesondere Waldorfschulen – wird dennoch weiterhin die Gelegenheit geboten, Linkshändern das Schreibenlernen mit der rechten Hand zu ermöglichen.“

Ich lass diese Sätze mal kurz in euren Hirnen marinieren.
Das ist, meiner Ansicht nach, ein ganz ausgezeichnetes Beispiel für Framing. Ich würde echt gerne wissen, was @martinhaase, @astefanowitsch oder @Evo2Me dazu sagen.

Es wird von „Gelegenheit geboten“ und „Schreibenlernen […] zu ermöglichen“ gesprochen.
Das heißt, andersherum gedacht, dass Linkshändern anderswo die Gelegenheit entzogen würde, mit der Hand zu schreiben, mit der sie eben wollen und eigentlich klingt sogar durch die Blume mit, dass man sie aktiv davon abhalten würde.
Und man täte dies, um „den Betroffenen einen zusätzlichen Freiheitsgrad zu verschaffen, in dem sie dadurch mit der rechten Hand geschickter werden und zudem ’so wie die anderen‘ schreiben können.“

Fällt euch was auf?
Exakt: Wenn man den ersten Teil des Arguments konsequent weiterdenkt, müsste man nämlich auch den Rechtshändern nahelegen, Schreiben mit der linken Hand zu üben. Das ist aber – natürlich – nicht der Fall.
Noch mal kurz einen Schritt zurück. Es wird explizit die Arbeit von Barbara Sattler erwähnt. Das könnte man als freundliche Nennung einer Expertin werten. Aber ich sehe das hier ein bisschen anders. Hier wirkt es auf mich so, als würde die gesamte Seite, die gegen >
die Umerziehung von Linkshändern argumentiert, darauf heruntergebrochen, dass es eine One-Woman-Show, also Lobbyismus durch eine Einzelperson, zu sein scheint.

Wissenschaftliche Forschung, die gegen diese „Angebote“ spricht, wird in der Folge nur am Rande erwähnt.
Forschung wird in der Folge nur erwähnt, soweit sie die Argumente, der Autoren stützt, mit relativ großzügig bemessener Relevanz.
Es wird natürlich auch nicht erwähnt, dass das Thema mitnichten nur in Deutschland diskutiert und erforscht wurde, also der erweckte Eindruck einer One-Woman-Show ziemlich absurd ist.
Im nächsten Absatz wird dann immerhin erwähnt, dass der Zwang der Vergangenheit, also die gezielte Umerziehung von Linkshändern für viele Kinder traumatisch war und zu Folgeproblemen führte. Hier wird unter anderem „Ideenfluch“ erwähnt, was auch immer das sein soll.
Das sei alles als „Überlastung des gesamten Gehirns belegt“.

Dann folgt, paraphrasiert: Wir haben uns die Gegenargumente alle angesehen und sind trotzdem der Meinung, das der Weg, den wir schon immer empfohlen haben, der Richtige ist.

Aha.

Was dann folgt, ist die Rechtfertigung der Position. Da kommt natürlich aufs Tablett, was bei Esoterikern immer zuerst ins Feld geführt wird, wenn behauptet wird, das irgendwelcher Schwurbel bei neurodiversen Personen hilft oder Behinderungen heilbar wären: Neuroplastizität.

Ich wäre ja echt gespannt, was Personen, die Neuroplastizität erforschen, wirklich zu diesen mannigfaltigen Behauptungen sagen. Mir scheint Neuroplastizität hat da manchmal den Stellenwert von Quantenphysik. Keiner versteht’s, deswegen kann man alles damit begründen.
Der Abschnitt zum Argument via Neuroplastizität wird mit den Worten abgeschlossen: „Auch handelt es sich ja nur um das Schreibenlernen mit der rechten Hand. Alle anderen Spontanbewegungen bleiben links – d.h. das Kind hat in allem Übrigen ‚freie Hand‘.“
Also für mich klingt das jetzt schon nicht mehr nur nach „Angebot“ und „Möglichkeit bieten“, sondern nach „Linkshänder sollen mit rechts schreiben lernen. Punkt.“
Der nächste Abschnitt nennt sich „Beachten der Qualitäten von Rechts und Links“. Hier werden nun wahllos Beispiele zusammengewürfelt, welche Einstellungen andere Kulturen zur linken oder rechten Hand haben.
Was als Erkenntnisgewinn aus dem Abschnitt gezogen werden könnte: Kulturen hatten lustige Einstellungen, was man mit rechts oder links tut oder für was die jeweiligen Seiten stehen. Und wie immer, wenn etwas kulturell gewachsen ist, steckt nur bedingt Logik dahinter.
Wie die Autoren nun daraus schließen, dass es sinnvoll wäre, Kindern die ‚Möglichkeit zu geben‘ das ‚Schreiben mit Rechts zu erlernen‘ erschließt sich mir zumindest nicht. Nur kommen die Autoren zum Schluß erneut auf Neuroplastizität zurück, mit ein paar netten Anekdoten angereichert, wie wunderbar doch ein Junge, der seinen rechten Arm verloren hat, dann lernte alles mit links zu machen. Dann erwähnen sie mal die Veröffentlichungen von Gerald Hüther und Manfred Spitzer die ja den Autoren recht gäben.
Ausgerechnet die beiden Hofnarren der Hirnforschung, die, zumindest im Falle Hüthers, auch vollumfänglich wissenschaftlich diskreditiert sind.
Der nächste Abschnitt trägt den Titel „Regelmässiges Üben stärkt den Willen“.

Soviel also zu „Angebot“ und „Möglichkeit bieten“. Hier wird der Eindruck erweckt, dass der Willen von Linkshändern gestärkt würde, wenn sie nur oft genug üben mit Rechts zu schreiben.
Erneut: auffällig ist, dass Rechtshänder diese Willensstärkung anscheinend nicht nötig haben.
Es folgen Vorschläge, wie diese ‚willenstärkenden‘ Übungen zum Schreiben mit Rechts aussehen. Erst groß auf Packpapier, dann „Wird das Kind dann auch beim immer kleiner werdenden Schreiben mit Verständnis, Liebe und Humor begleitet, so macht das Üben trotz aller Mühe Freude.“
Bei diesen Formulierungen dürften bei meiner Autismus-Bubble alle Alarmglocken anspringen.

Denn die Phrase, wie viel SPASS es doch macht, ist quasi die Standardbehauptung, bei allen dogmatischen und traumatisierenden Therapien, wie ABA.
Und nun wird es endgültig versteinert. Denn es geht um den „Schicksalsaspekt“.
Linkshändigkeit sei ein Folgezustand eines früheren Erdenlebens, in dem sich der Mensch körperlich und seelisch stark verausgabt hat.

Aha.

Und nun die Money Quote:

„Hinzu kommt, dass es für die linke Seite besser ist, wenn sie fähigkeitsorientiert und nicht zusätzlich belastet eingesetzt wird, d.h. den Qualitäten der linken Seite entsprechend NICHT ZUM SCHREIBEN …“
Es geht nicht um Angebote. Es geht um die Umerziehung von Linkshändern.
Weiter: „Alle anderen Handfertigkeiten jedoch, wie Malen, Nähen, Schneiden DÜRFEN selbstverständlich mit der linken Hand erfolgen, wenn das Kind es will.“

Es wird in diesem Kapitel so gut verbrämt, wie möglich, aber es geht hier schlicht und ergreifend um Zwang.
Aber natürlich will man sich nicht drauf festnageln lassen. „Es geht also in keinem Fall darum, eine Umstellung von links auf rechts anzuraten. […] Es wird nur das Schreibenlernen mit der rechten Hand empfohlen, wo dies als sinnvoll erlebt und von den Beteiligten gewollt wird.“
Ja, und die Kinder wollen das ganz sicher auch und sie haben SO viel SPASS dabei! 🙄

Wir, also Autisten, kennen das Lied ja schon aus der ABA-Ecke.
Nächster Abschnitt „Empfehlung zur individuellen Entscheidung“.

Oder die „ne, wir sagen nicht, dass ihr es tun sollt und für Folgeschäden sind wir auch nicht verantwortlich, aber hier eine schöne Sammlung von Anekdoten wo es SUPER lief“.
Gegenbeispiele, wo es so richtig in die Hose ging, gibt es – überraschenderweise – natürlich nicht.
Stay tuned, bis ich mich dem Kapitel „Konstitutionelle Bewegungsunruhe“ (ADHS nennen sie es gleich schon mal nicht) widme. Da habe ich auch beim kurzen drüberfliegen schon einige ‚herrliche‘ Stellen entdeckt. Aber nicht mehr heute, sonst hab ich Alpträume.

Eine kleine Ergänzung. Danke an den Hinweis von @VulgarisLoligo.

Die erwähnte Expertin die hier als maßgeblich für den Umschwung weg von der Umerziehung erwähnt wird, Barbara Sattler, ist wohl auf andere Art dogmatisch, aber ebenso dogmatisch wie die hier vertretene Position.
Ich finde das hochinteressant. Ich muss dem nochmal nachrecherchieren, aber ich hielt es für einen wissenschaftlichen oder wenn nicht wissenschaftlichen dann zumindest für einen pädagogischen Konsens, dass die Umerziehung von Linkshändern Mumpitz ist.
Aber hier werden eben keine sonstigen Pädagogen zitiert, es wird nicht auf internationale Diskussionen oder Erkenntnisse eingegangen. Hier wird nicht über den deutschen Tellerrand hinausgeschaut und ein „wir gegen die“ aufgemacht.
Sattler & ihre Position wird nicht direkt angegriffen. Man erweckt lediglich den Eindruck, als gäbe es nur diese zwei Lager, die Anthroposophie auf der einen und eine Lobbyistin auf der anderen Seite & die antroposophische Position wird von der Hirnforschung gedeckt dargestellt.

Eine Korrektur muss ich nachschieben. Ich habe die 17. Ausgabe als die aktuellste bezeichnet. Das ist nicht korrekt. Die 17. Ausgabe ist von 2008. Die aktuellste Ausgabe (die 20.) ist von 2018.

 


 

Diese Aussage ist nicht korrekt. Die aktuellste Ausgabe ist die 20. Ausgabe, die im Jahr 2018 erschienen ist.


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