Durchlitten: Die „Autismusrevolution“



Über Facebook erfuhr ich von einem Webinar mit dem Klangvollen Titel „Autismusrevolution“. Weil ich anscheinend einen Hang zum Automasochismus habe, habe ich 90 Minuten meiner Lebenszeit investiert, die ich nicht mehr zurückbekommen werde …

Zweiter Thread für heute. Ich habe mir vorhin einen Webinar zur „Autismusrevolution“ angesehen, mich dann erst mal hingelegt und jetzt bin ich dann wieder halbwegs so weit, meine Gedanken dazu in Worte zu fassen.
Die Webseite zum Webinar tickte schon alle „Obacht, Schwurbel“-Boxen.

  • 1. Es werden extreme Emotionen angesprochen: „aus der Spirale der Hilflosigkeit und Verzweiflung befreit habe“
  • 2. der versprochene Erfolg: „einem Leben voller Liebe, Freude und Leichtigkeit“
  • 3. Es wird dem Teilnehmer versprochen, Geheimnisse zu erfahren, die man nirgendwo sonst erfährt*.

  • *)Spoiler: wenn etwas wirkt, dann muss nicht dafür geworben werden. Dann ist es allgemeines Wissen, es verbreitet sich rasch durch Mundpropaganda, und die Anbieter sind überlaufen.
    Wenn etwas ein Geheimnis bleiben kann, dann ist es entweder von vorneherein kein Geheimnis, sondern wird nur als ein solches bezeichnet um neugierig zu machen, oder es ist irrelevant bzw. wirkt nicht.


  • 4. Beteiligt an der Lösung ist natürlich die – TADAAA – Quantenphysik!
  • 5. Und Einstein! Einstein knows!
  • 6. „wie dann die Heilung endlich began“ – zwar wird auch im Webinar dann nochmal darauf verwiesen, dass man ja keine Heilsversprechen machen darf, aber gemacht werden sie.

Okay, der Webinar beginnt. Ich hab die ersten paar Minuten verpasst, bezweifle aber, dass da irgendwas spannendes zu erfahren war, das jetzt die Gesamtbewertung beeinflussen würde.
Wieder wird darauf hingewiesen, dass wir 3 Geheimnisse erfahren werden.

Wir erfahren, dass diese auf den neusten Erkenntnissen der Quantenphysik und noch ein paar fancy Wissenschaften basieren.
Nächster Satz.
Die Geheimnisse basieren auf uralten Erfahrungen, der Spiritualität … bla.“

Ein direkter Widerspruch in nur zwei Sätzen. Nice.
Außerdem würde man die Geheimnisse _nirgendwo sonst_ erfahren können!

Yeah.
Sure.

Und wir würden erfahren, wie man einem autistischen Kind hilft, ohne Verhaltenstherapie und Medikamente.

Ich bin voll für ohne Verhaltenstherapie und Medikamente zu haben. Bring it on!

Die Webinar-Anbieterin stellt sich vor.
Sie sei eine erwachte Mama eines Kindes mit atypischem Autismus.

☑️ Noch eine Schwurbel-Box abgehakt.

Das Kind habe Schlafstörungen nach der ersten Impfung entwickelt.

☑️ Hakt eine weitere Schwurbel-Box ab.

Mit vier Jahren sei atypischer Autismus bei ihrem Kind diagnostiziert worden.

Dann sagt sie, sie wolle uns nicht mit den Anzeichen und Symptomen von Autismus langweilen. Nur uns von ihrer Geschichte erzählen …
Es folgen ca. 30 Minuten, in denen sie ihre Leidensgeschichte wortreich und mit vielen Verteidigungen, was man ja schließlich nicht erwarten könne, wie die furchtbar vielen Fahrten zu Therapien und so, erzählt.
24 Minuten in den Webinar will ich mir das erste Mal was über den Schädel schlagen, damit mein Leiden endlich endet.
Sie konnte ihrem Kind auch keine Medikamente geben, wegen der sensorischen Probleme. Nur homöopathische Kügelchen habe es akzeptiert …

Süßes. You don’t say …

Weitere Aufzählung der Symptome, bis hin zu Neurodermitis. Dann sagt sie auf einmal etwas, das ich vollumfänglich unterschreiben könnte. Nämlich, paraphrasiert, dass zuerst die Mutter therapiert werden müsse und nicht das Kind.

Ich bin überrascht.

Es folgen weitere Aussagen, die mich angenehm überraschen. Wie, dass das autistische Kind seine Würde verdient, wie alle anderen Menschen auch.

Und, dass man bei sich selbst anfangen müsse, wenn man sein Leben ändern wolle.
Wow. Sollte das ganze etwa in eine vernünftige Richtung abbiegen?

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Die beiden ersten Geheimnisse sind eigentlich nur eines:
Arbeite an Dir selbst und deinen Erwartungen und akzeptiere dein Kind wie es ist.

Bei dem „dann verschwinden die Symptome“ hat sie allerdings schon etwas falsch verstanden.
Denn die Symptome von Autismus verschwinden ja nicht. Das Kind leidet nur nicht mehr am Umfeld und nicht darunter, dass das Umfeld den Autismus verschwinden machen will.
Es werden einfach zusätzliche Probleme weggenommen, die Familiensituation entspannt sich, wenn vom Kind nichts erwartet wird, das es nicht leisten kann.

Der Autismus ist nach wie vor da.
Aber die Dame redet davon, dass das Kind dann ja nicht gemobbt werden würde, wenn der Autismus verschwindet und das sei ja ein heres Ziel.
Während also die ersten zwei Geheimnisse – die sowieso keine Geheimnisse sind, weil das erwachsene Autisten und auch viele Eltern von autistischen Kindern beständig predigen – sinnvoll klangen, überschätzt die Damen bereits deren Auswirkung.
Kommen wir zum dritten Geheimnis. Denn das dritte Geheimnis begründet nun, warum die ersten zwei Geheimnisse klappen. Wegen – TADA – Quantenphysik.

Sie würfelt jetzt schnell die Namen einiger Wissenschaftler in ihren Bericht, mit denen sie ‚zusammengearbeitet‘ habe.

Eingeworfenes Tidbit. Die Ankündigungsseite für ihren Webinar behauptet es ginge hierbei um eine eigens von ihr entwickelte Methode.
Jetzt fällt in einem Halbsatz der Begriff „Reconnective Healing“ und spirituelles Heilen.

Wir haben es also, was ich von vorneherein vermutete, mit einer „Geistheilerin“ zu tun. Einem Berufsfeld, das mir noch stärkere Zahnschmerzen bereitet als Heilpraktiker.
Geistheiler sind in Deutschland völlig unreguliert, weil der Gesetzgeber mal glaubte, was die tun, könne ohnehin keinen Schaden anrichten.

„Geistige Wirbelsäulenaufrichtung“ und Ähnliches hat es auch bis ins Fernsehen geschafft.
Aber gerade Geistheiler sind ganz vorne dabei, wenn es darum geht, z.B. MMS zu empfehlen.

Sie dürfen zwar an sich keine derartigen Ratschläge geben, aber es gibt faktisch niemanden, der sich für Geistheiler zuständig fühlt.
Während es bei Heilpraktikern immerhin noch die Aufsicht durch die Gesundheitsämter gibt, auch wenn die nicht funktioniert – siehe meinen anderen heutigen Thread – bei Geistheilern gibt es: Nichts.

Halbwegs beruhigend für mich, in diesem Zusammenhang: Die Dame will ja nicht mit den Kindern arbeiten, sondern nur mit den Eltern.

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Jeder weitere Satz, der zu Geheimnis #3 fällt, ist ein eigenes kleines Universum an WTF.

„Unser Geist herrscht über die Materie …“
„Unsere Gedanken sind Energie …“
„Unser Herz erzeugt ein Energiefeld, das über mehrere Kilometer hinaus wirkt …“
„Energie folgt der Aufmerksamkeit …“

Und jetzt wird es mit jedem Satz ekliger.

Denn, der Dame nach passiert ungefähr folgendes (paraphrasiert):
Weil man durch Gedanken und Emotionen den eigenen Körper und die Materie in seinem Umfeld ändern kann, lösen Eltern, die ihre Gedanken einfach wild umherwandern lassen, also die Energie nicht ordentlich richten, die Verhaltensstörung ihres Kindes selbst aus.
Das ist der Moment in dem ich sehr, sehr, sehr wütend werde, denn hier versucht jemand Eltern erst die Gewissheit in das eigene Sein zu nehmen, um es ihnen anschließend zurückzuverkaufen.
An diesem Punkt hat die Vorstellung der 3 Geheimnisse ungefähr 10-15 Minuten in Anspruch genommen und wir nähern uns Minute 50. Geschätzt 35-40 Minuten ’so schlecht ging es mir selbst‘-Bericht, 10 Minuten Verkündung der Geheimnisse, …
… und nachdem die Dame elegant den Eltern und deren ungerichteten Gedanken die Schuld zugeschoben hat, beginnt die Werbung.

Denn das muss ja alles nicht so bleiben. Man kann jetzt zwei Wege einschlagen.

  • 1. Sich selbst auf die Suche begeben.
    Aber das sei ja mühsam. Und teuer. Und man würde dabei so viel Leid erfahren. Und zu Seminaren fahren müssen. Und _Jahre_ brauchen, um sich das Wissen anzueignen.
  • Oder 2. … ihr ahnt …

man bucht ihren Kurs.

Es folgen rund 20 Minuten Suggestion. Die Webinar-Anbieterin erzählt, wie schlimm doch das Leben der Person ist, die gerade vor dem Monitor sitzt.
Voller Leid. Voller Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit.
Immer begleitet von suggestiven, depremierten Bildern.
Ich so:

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Dann das Gegenteil. Wo die Person hinwill. Man sieht Lachen, glückliches Familienleben, Urlaubsatmosphäre. Versprochen wird Harmonie, Glück, Leichtigkeit.

Dann geht es langsam ans Eingemachte. The plot thickens, angekündigt wird die „Revolution im Bereich Autismus“ …
Die aber – jetzt tun wir alle mal überrascht – nicht nur bei Autismus gut wäre.

Warum sollte man auf eine Zielgruppe verzichten, wenn man sie sich selbst schaffen kann?
Und endlich erfahren wir: Es geht um den Online-Seminar „Die Metamorphose“.

Und wir erfahren, wie toll Online-Seminare im Gegensatz zu Seminaren vor Ort sind, zu denen man ja hinfahren muss und die Kosten für die Unterkunft hat und …
Ich erwäge die Selbst-Defenestration, aber wir wohnen ja im Erdgeschoss. Das gäbe nur blaue Flecken.
Sie meint, sie fände es unfair, all ihr Wissen für sich zu behalten.

Mein Gedanke: Ach, wie wärs dann mit einem Blog, A***?

Deswegen gibt sie zu den 9 Kapitel ihres Online-Kurses, die alleine ja schon reichen würden, um das Leben zu verändern, noch 3 Bonuskapitel!
Weil sie ja sie ist!

SO gütig.

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Dann will sie über den Wert des Kurses reden.

Der läge ja bei 3750 €.

Aber das sei ja nicht der Preis.

Irgendwann, fünf oder 10 Minuten später, mein Zeitgefühl hat bereits Sepukku begangen, erfahren wir, der Kurs kostet 333 €. Aber nur jetzt und nur 20 Minuten lang.
Weil Sonderpreis. Vermutlich halt nach jedem „Webinar“ aka 1 1/2 stündigem Werbeblock. Künstliche Verknappung. Der allerälteste Trick der Welt.
Und 333 €, weil sie habe sich das Versprechen gegeben, das Wissen jedem Menschen zugänglich zu machen. Jeder solle es sich leisten können.

Mein Gedanke – ihr ahnt es: „Dann blogge, A***.“

(Oder besser nicht, dann stolpern arglose Eltern nicht über den Quatsch.)
Sie dürfe aus rechtlichen Gründen keine Heilsversprechen abgeben und das sei ja auch unmoralisch, aber …

… sie gibt sie durch die Blume eben doch.
Es ist ja nicht so, dass das, was sie sagte 100% Blödsinn war.

Der Rat, sich nicht daran zu orientieren, was die Nachbarn sagen, was Lehrer sagen, sondern sich selbst und vor allem das Kind anzunehmen und zu akzeptieren, der war durchaus gut.
Aber die Begründung warum das gut ist, war ein großer, dampfender Haufen Mist.

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Der Dreh, Eltern die Schuld am Autismus ihrer Kinder einzureden, gehört zum Übelsten in der gesamten Quacksalberbranche.

Dieser Kniff, Kunden zu schaffen, in dem man Menschen belastet, ist genau der Punkt, aus dem ich Esoterik und insbesondere Geistheiler verabscheue.
Wer tatsächlich hilfreiche Tipps sucht, wie man sein Kind akzeptiert und lernt, die Sprüche der Nachbarn, Lehrer und von wohlmeinenden Verwandten an sich abgleiten zu lassen, der findet gerade hier auf Twitter Rat und Unterstützung bei Eltern autistischer Kinder & in deren Blogs.
Und der wird auch erleben, dass das Familienleben harmonischer wird und weniger problembeladen, wenn man eine gelassenere Einstellung zu Autismus und dem eigenen Kind einnimmt.
Wenn man Gleichgesinnte findet, die zeigen können, dass es Wege gibt, auch übergroße Herausforderungen zu meistern.

Dazu muss man sich nicht erst den Schneid für 333 Euro zurückverkaufen lassen.
Wer Personen im Umfeld hat, die ihr hartverdientes Geld an sinnlose Geistheiler-Kurse verschwenden wollen, der schicke sie nach Twitter. Hier gibt es (wildly unvollständige Liste): @andersbunt
@AnitaWorks9698
@ChronicMum
@Beautist1
@MichiM_autKN
@LivingCode2
@TimMinden
@shg_autismus
@bordsteinprosa
@wochenendrebell
@MinDrago
@Herzchaosmama
@gedankentraeger

Und wer hilfreiche Blogs kennt, kann sie gerne hier an den Thread anhängen. Ich habe (und bin) erst mal fertig.

Oh. Ich habe noch was vergessen. Ich wollte ja kurz noch auf „Reconnective Healing“ eingehen. Denn die Dame behauptete ja, sie habe sich ihre Methode selbst ausgedacht.
Nun. „Reconnective Healing“ ist so sehr „selbst ausgedacht“ wie ein aus den USA stammendes, markenrechtlich geschütztes Konzept eben sein kann, für das es sogar einen europäischen Verband gibt.

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Erfunden wurde „Reconnective Healing“ von einem „Doktor der Chiropraktik“ (jetzt tun wir wieder mal alle sehr überrascht), dessen Namen auch weiterhin mit der Methode verknüpft bleibt.
Wie anderswo erwähnt, ist es selten ein Zeichen von Qualität, wenn der Erfinder einer Methode auch deren Namensgeber ist. Es ist auch selten ein Zeichen von Qualität, wenn es einen Erfinder gibt.

Behandlungen werden in der Medizin selten von einem ‚genialen Genie‘ erdacht, sondern im Allgemeinen im Team und von mehr als einer Person entwickelt.
Auch werden -bzw. wurden- zwar durchaus Krankheiten nach den Entdeckern benannt, aber Therapien üblicherweise nicht.
Wer sich also mit einer Behandlungsform selbst ein Denkmal setzen will, der bewegt sich meist außerhalb der seriösen Medizin.
Soweit, so gut. Das Wissen, dass da ein markenrechtlich geschütztes Konzept hinter der angeblichen „Autismusrevolution“ steht, bietet keinen großen Erkenntnisgewinn. Aber es zeigt, dass die Anbieterin es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt.
Oder, dass sie es schlicht als einmaliger und überwältigender wirken lassen will, als es ist und sich selbst tiefe Einsichten und Genie zuschreiben will …

Das sagt ja auch was aus.



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