Aber mit uns ist es doch nicht anstrengend …


Nach der Autismus-Diagnose ist es sinnvoll, aktiv zu werden anstatt sich nun in die Ecke zu legen und das Dasein als Autist zu bejammern. Dazu gehört möglicherweise eine Therapie … die meisten spät erkannten Autisten haben immerhin tonnenweise Erlebnisse zu verarbeiten … aber auch das Leben so zu organisieren, dass es sich gut lebt und Probleme wie in der Vergangenheit vermieden werden. Die meisten Autisten kommen schließlich im Erwachsenenalter erst, oder überhaupt nur dann zu eine Diagnose, wenn es so richtig gekracht hat.

Soziale Interaktion verlangt Autisten immer ein hohes Maß an Anpassungsleistung. Machen wir uns nichts vor. Selbst Menschen, die sehr tolerant sind, erwarten ein gewisses Maß an Entgegenkommen. Im beruflichen Bereich nennt man das auch schlicht „professionell sein“. Ausserdem sind nur wenige Autisten aus Scheißegal-Holz geschnitzt. Wir würden es schon ganz gerne vermeiden anderen Menschen unbewusst auf die Zehen zu treten.

Diese Anpassung kostet Kraft. Immer die Antennen weit ausgefahren zu haben um soziale Fallstricke und Tretminen rechtzeitig zu erkennen kostet Kraft. Unsere sozialkompatible Maske zu tragen kostet Kraft. Das ‚Draussen‘ mit seiner Unkontrollierbarkeit, den unvorhergesehenen Ereignissen und den mannigfaltigen Eindrücken: es kostet Kraft.

Es ist also sehr sinnvoll, sich nach einer Diagnose zu überlegen, wieviel direkte soziale Interaktion einem überhaupt gut tut und – soweit möglich – auf weniger direkte Interaktion auszuweichen. E-Mail statt Telefon, Twitter statt dem Schwatz am Gartenzaun, Skype-Konferenzen statt Meetings, Fernstudium statt Präsenzstudium. Und so weiter.

Das klingt einfach und praktisch, aber dann passieren Menschen. Nicht nur die Kollegen, die unbedingt auch bei komplexen Themen telefonieren wollen weil das doch persönlicher ist, sondern Menschen die man mag. Eigentlich. Oder zumindest gerne mögen würde. Und Menschen, die einem nahestehen.

Die machen sich nämlich oft ganz eigene Gedanken dazu und in ihrer Vorstellung, haben wir nur dann ein Problem mit anderen Menschen, wenn die Interaktion irgendwie spürbar anstrengend wird. Und sie sind doch nicht anstrengend! Sie mögen uns ja. Oder, sie sind sogar mit uns verwandt.

„Aber mit uns ist es doch nicht anstrengend!“ ist so ein Satz den man dann zu hören bekommt. Der mit einem schon etwas vorwurfsvollen Unterton vorgebracht wird. Man will ja schließlich eine Ausnahme sein neben den anderen. Wenn man mit ihnen zusammen ist, muss alles rosa, voll Einhornglitzerpups und Glückseligkeit sein. Man steht sich doch nahe. Man ist doch eine Familie. Und wenn man ehrlich sagt, dass man eine Geburtstagsfeier mit 100 Gästen eben doch nicht fluffig und entspannend findet, fühlen sie sich zurückgestossen, denn das ist etwas persönliches. Für sie, so glauben sie, müssten wir eine Ausnahme machen. Den Autismusschalter umlegen, ihren Wünschen kompatibel empfinden und für einen Tag, am besten auf Bestellung, kein Mutant mehr sein.

Oft ist sogar der anspruchsvollste Chef verständnisvoller, als Menschen, die einem nahestehen. Weil er es eben nicht persönlich nimmt und nicht jeden Kontakt, den man lieber vermeidet, darauf bezieht, dass man ihn als Person nicht mag.

 


7 Comments Aber mit uns ist es doch nicht anstrengend …

  1. Forscher

    Das ist der Zustand, den ich von mehreren AutistInnen schon als „unsichtbare Wand“ beschrieben gelesen habe. Man selbst reift heran, hat unglaublich viele Erkenntnisse über sich selbst, doch die anderen bleiben stehen. Sie haben ihr Weltbild, ihr bestimmtes Bild von jemand, ob vor oder nach der Diagnose. Es ist für sie schwierig vorstellbar, dass hinter ihrem Verhalten eine ganz andere Ursache steckt als sie davon ausgehen, und machen weiter wie bisher.

    Für einen selbst, der plötzlich begreift, dass er sich zurücknehmen muss, oder dass er bestimmte Störungen (z.B. eben Reizüberflutung) angehen muss, ist das so schwierig, dem anderen begreiflich zu machen, dass er diese Zurückhaltung braucht. Weil er eben nicht so ist wie alle anderen, und „Änder mal Deine Einstellung“ kein umsetzbarer Ratschlag ist. Ja, man selbst ändert durchaus seine Einstellung, sich selbst gegenüber wird man weniger kritisch und redet sich weniger schlecht. Man schämt sich vielleicht nicht mehr dafür, dass es eben schriftlich besser klappt als über Telefon. Man denkt nicht mehr „ach, wenn ich das Telefonieren übe, wird es sicher besser“, wenn es jedes Mal die gleichen Schweißausbrüche auslöst. Warum sich unnötig quälen, wenn es Alternativen gibt? Vor allem, wenn man am Telefon ein Großteil relevanter Informationen verloren geht, weil einem entweder a) die wichtigen Fragen/Aussagen nicht einfallen oder man b) aufgrund des schlechten Kurzzeitgedächtnis wieder vergisst, was man gesagt bekam. Schriftlich hält es fest, da geht nichts verloren. Und man kann darüber nachdenken, bevor man antwortet. Mit möglicher Missinterpretation des Geschriebenen muss man genauso leben wie am Telefon etwas falsches zu sagen, was genauso in den falschen Hals kommen kann.

    Für mich ist dieser Diagnoseprozess, die intensive Recherche ein ungeheurer Reifeprozess, ich lerne viel über mich selbst, aber auch wie die anderen ticken, und warum sie nicht aus ihrer Haut können. Das ist einerseits lehrreich, andererseits auch traurig, weil man über die unsichtbare Wand nicht steigen kann. Es setzt ein Entgegenkommen voraus, sich auf etwas einzulassen, ohne kategorisch abzulehnen.

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  2. Pingback: Markierungen 05/05/2015 - Snippets

  3. lawgunsandfreedom

    Schöne Beschreibung. Damit habe ich auch immer meine Probleme. Glücklicherweise habe ich intelligente Freunde, die es mir ein bisschen leichter machen.

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  4. Gardiners-Seychellenfrosch

    Ach, meine Family hat überall autistische Züge…. Gran+Mum hassen ebenfalls große Familienfeiern… Gran tickt aus wenn nicht pünklich zum essen gekommen wird…. Mum kauft immer dasselbe und hasst Läden von Größe ab Marktkauf/REWE XL aufwärts…. Nur die Außenstehenden sind ein Problem…. Bro ist nur Physik-Nerd und Forschernachwuchs…

    Dad ist noch nicht diagnostiziert hat aber m.E. Lehrbuch-AS+ADS… Ich vermute ADS zu haben… Glaubt mir keiner….

    Hab deinen alten Biolgeintrag zu PMS gefunden:

    Buscopan half bei mir gut, seit Zwegs Geburt sind keine Schmerzen mehr, ok wahrscheinlich wurde dabei meine Schmerzschwelle gesenkt oder so… Obwohl es grauenvoll war mit künstlich eingeleiteten Wehen, Buscopan bekam ich für ne PDA hab ich zu sehr gezappelt…

    Aber vorher war die Periode grauenvoll…

    Naja, bei mir ist nur AS mit Hörminderung offziell anerkannt. ADS nich, naja da die oben beschriebenen Symtome u.a. bei mir zutreffen werd ich wohl auch ADS haben…

    Naja, bei Periode kann ich mich überhaupt nicht angepasst verhalten, das kommuniziere ich auch so… Leider ließ die WbfM-Gruppenleiterin so ein Geseiere ab wie musst doch ne heulen…. Wasn Heulen ist auch nicht erlaubt???? Irgendwie muss der Innendruck raus… Is aber besser als ne Wutanfall kriegen und rumschreien und/oder Zeug werfen oder? Naja, immerhin ist die Gute lernfähig und will nächste Woche meine Bedürfnisse berücksichtigen…. Obwohl sie noch nicht kapiert hat m.E. warum ich keine Experimente will.

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