DIE WELT mal wieder über Asperger


Mit der freundlichen Genehmigung von Stefan „Kiezkickerde“ Roßkopf veröffentliche ich hier seine Kritik am heutigen Artikel der WELT, der sich inzwischen via DPA auch zu anderen Medien verbreitet.

Der Text erschien zuerst als Pastebin.

 

Jud. Ursprünglich war ich nur etwas genervt vom „Asperger-Kinder können ein normales Leben lernen„- Artikel der WELT und verfasste daher einen launischen Tweet dazu, ohne die Intention, mich noch näher damit zu beschäftigen:

Direkt im Anschluß erhielt ich jedoch per DM die Nachfrage, was denn an dem Artikel so schlecht sei.
Da das für Twitter zu viel gewesen wäre, und mein eigener Blog inzwischen mehr als Archiv meiner Tweets dient als dem ursprünglichem bloggen, veröffentlichte ich meine Antwort, was ich denn an dem Artikel so schlecht finde, auf Pastebin. Kurz darauf entschloß ich mich, ihn auch weitergehend zu veröffentlichen, und nahm daher das Angebot an, hier den Text online zu stellen. Einfach, weil ich finde, dass ruhig auch andere erfahren dürfen bzw. sollen, warum dieser Artikel in meinen Augen einfach nur ungeeignet ist, irgendwelche Klischees über Autismus zu beseitigen, wie er es zu Beginn verspricht.Ungeeignet dafür ist er zum Beispiel deswegen:

„Asperger-Patienten leben in einer eigentümlichen Welt“.
Ich bin kein Patient. Und die Welt ist auch nur deswegen etwas eigentümlich, weil die Mehrheit eben kein Autist ist. Für mich ist die Welt komplett normal, bloss die anderen Menschen stören zeitweilig etwas diesen Eindruck.
„Das Asperger-Syndrom ist eine autistische Störung, die – wie alle autistischen Störungen – schon in der frühen Kindheit beginnt“.
Das ist insofern Unsinn, als das bspw. Kanner – Autismus sich quasi ab Geburt zeigt, Asperger aber erst ab etwa dem dritten Lebensjahr. Klar ist er auch vorher vorhanden, man wird aber Probleme haben, ihn diagnostiziert zu bekommen, ihn feststellen zu können.
Und ganz abgesehen davon ist das keine Störung, sondern eine Andersartigkeit. Das Asperger-Syndrom ist Teil des autistischen Spektrums, aber eben keine Störung.
Außerdem ist ein zwanghaftes Festhalten an Wiederholungsroutinen typisch. „Abläufe müssen immer gleich sein, Handlungsstränge werden immer gleich ausgeführt. Ansonsten reagieren sie mit massiver Irritation und Widerstand dagegen.“
Dann bin ich ein sehr untypischer Autist. Klar habe ich auch so was wie Routinen, aber ich denke, die hat jeder Mensch. Und ich kriege keine Schreikrämpfe, wenn bei meinem Essen die Nudeln mal auf der Sauce liegen, obwohl die Routine besagt, dass sie eben darunter zu sein haben. Das ist einfach eine tierische Verallgemeinerung. Wie auch der komplette Artikel voll mit Verallgemeinerungen ist, die aber als allgemeingültig und immer auftretend dargestellt werden.
„Im Unterschied zu Kindern mit frühkindlichem Autismus sind Asperger-Autisten nicht weniger intelligent und haben keine Sprachentwicklungsstörungen. Sie können oft normale Schulen besuchen.“
Das können Kanner – Autisten auch. Jedenfalls in den Bundesländern, in denen Inklusion auch wirklich mit Leben gefüllt wird.
„Falsch vernetzte Hirnregionen“
Hallo?! Hier ist nichts falsch vernetzt. Was ist denn das bitte für eine Überschrift?!?
„Eine Asperger-Diagnose bedeute aber nicht, dass Betroffene zwangsläufig nur eine leichte autistische Störung haben oder – wie oft behauptet – hochbegabt sind.“
Auch wieder eine komische Aussage. Asperger haben keine leichte autistische Störung, sie befinden sich genauso im Autismusspektrum wie Kanner, wie untypische oder was es sonst noch so innerhalb des Autismusspektrums gibt. Wo die Aussage herkommen soll, dass sie hochbegabt sind, kann ich mir nicht erklären, normalerweise sind Asperger sonst immer nur potentielle Mörder. Autismus hat nun was genau mit der Begabung zu tun?!? Zunächst einmal ist Autismus eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt….
„Autisten können Mimik und Gestik nicht verstehen, Gefühlsregungen ihres Gegenübers nicht einordnen.“
Und mal wieder eine unzulässige Generalisierung. Das mag bei machen der Fall sein, ist aber auch bei Nichtautisten der Fall, und tritt nun absolut nicht bei jedem Autisten gleichermaßen aus. Das ist einfach eine Null – Aussage, weil es hier als pauschaler Fakt hingestellt wird, der bei jedem gleichermassen zutrifft.
„Es fällt ihnen schwer zu erkennen, welche Absicht jemand in einem Gespräch verfolgt.“ „Autistische Menschen entwickelten diese Fähigkeit nur eingeschränkt. In komplexen sozialen Situationen sind sie daher überfordert.“
Ach Leute. Aber doch nicht deswegen, weil man das Ziel eines Menschen nicht erkennt, sondern viel mehr, weil zu viele Sinneseindrücke gleichzeitig in so einer Gesprächssituation auf einen einströmen. Das Ziel, was jemand mit einem Gespräch verfolgt, ist mir jedenfalls in der Regel ziehmlich schnell klar, wahrscheinlich schneller, als das der Gesprächspartner erwartet. Bloss mit der angemessenen Reaktion hapert es dann eben während dieser Zeit meist, weil gleichzeitig auch noch das Licht flackert, Geräusche vom Zimmer nebenan herüberströmen, weil der Gesprächspartner nach Knoblauch riecht und ich mich so einfach nicht auf das entsprechende Gespräch konzentrieren kann – genug, um nicht nur dem Gespräch zu folgen, sondern auch noch drauf zu reagieren. Mit einem Gesprächs ausgelastet oder überfordert zu sein liegt also nicht daran, dass nicht erkannt wird, welche Ziele jemand mit dem Gespräch verfolgt – sondern an den zu vielen Dingen, die neben diesem Gespräch zeitgleich noch ablaufen und die volle Aufmerksamkeit einfordern erlangen.
„Daraus resultiere wahrscheinlich auch das starke Bedürfnis nach Routinen und erwartungsgemäßen Abläufen oder die intensive Beschäftigung mit Details, erklärt der Mediziner.“
Komische Schlussfolgerung, die ich nicht teile. Egal, er ist der Mediziner, er wird schon wissen, wie ein Autist das empfindet, und warum er seine Routinen und Detailaufmerksamkeit betreibt.
„Autisten können normales Leben lernen“
WTF?! Hallo? Geht´s euch noch gut?
Erst mal: Was ist ein normales Leben, und wer legt das fest? Ist es erstrebenswert, ein solch „normales Leben“ zu leben? Ist es nicht erstrebenswerter, ein individuelles Leben zu entwickeln, als ein „normales Leben“ anzustreben?
„Betroffene müssen in mühsamer Kleinarbeit und sehr zeitintensiv üben, was anderen intuitiv gegeben ist: Mimik zu deuten, in Gesprächssituationen angemessen zu reagieren, veränderte Alltagssituationen oder manchmal auch ganz normale Dinge wie Einkäufe zu bewältigen.“
Meine Mami hat mir beigebracht, wie ich einkaufen gehe. Das hätte sie mir aber sicher auch beigebracht, wenn ich kein Asperger gewesen wäre, denn zu dem Zeitpunkt wusste sie davon noch gar nichts… Und ich auch nicht. Glücklicherweise 😉 bin ich heute dennoch in der Lage, einkaufen zu gehen, obwohl ich das spezielle Autisteneinkaufstrainingslager nicht erfolgreich durchlaufen habe. Bzw. da nicht mal dran teilgenommen habe. Und was meint der mit „mühsamer Kleinarbeit“?
„Je früher gezielte psychotherapeutische Maßnahmen beginnen, umso besser lassen sich viele Defizite minimieren.“
Ich frage mich gerade, wie ich die letzten 39 Jahre ohne eine Psychotherapie überlebensfähig war. Wie ich es geschafft habe, aus meiner Zimmerecke hinaus zu kommen.
„Christine Preißmann ist nicht nur eine gefragte Autismus-Expertin, die Fachartikel und Bücher schreibt. Sie ist auch selbst Autistin und ein gutes Beispiel dafür, dass man trotz autistischer Störung viel erreichen kann. Sie arbeitet als Allgemeinärztin und Psychotherapeutin in einer psychiatrischen Klinik.“
Whow. Und sie ist nicht mal an den Rollstuhl gefesselt oder leidet an ihrem Autismus. Woz braucht es nun so „gute Beispiele“ eigentlich? „Christine hat braune Haare. Sie ist dennoch Arzt geworden und fähig, alleine einkaufen zu gehen. Das sollte allen braunhaarigen Frauen doch Mut geben, es auch weiterhin zu versuchen.“ Oder wie jetzt?!
„Um mehr Akzeptanz zu erreichen, sei es vor allem auch wichtig, ein realistisches Bild vom Autismus zu zeigen – nicht nur den Menschen mit den skurrilen Sonderbegabungen oder das Kind, das schaukelnd in der Ecke sitzt.“
Sondern auch das Kind, was ohne Therapie womöglich später nicht in der Lage sein wird, alleine einkaufen zu gehen. Oder zu studieren. Oder besonders intelligent zu werden.
Was es hingegen nicht braucht, sind solche seltsamen Artikel, die Teilmengen als Totale, als überall gegeben darstellen. Und mit obskuren Dingen begründen, wie die Autistin, die sogar Arzt werden konnte. Was für eine Leistung…
Dafür hat sie bestimmt sogar sprechen müssen. 😉
Wie das wohl funktioniert hat, bevor es die Aspergerdiagnose überhaupt gab?
„Man muss zeigen, dass wir trotz autistischer Störung oft ganz normale Menschen sind, die dabei sein möchten und auch dabei sein können, wenn sich alle ein bisschen Mühe geben“, sagt Preißmann.
Ach was. Ich geh jetzt in meiner Zimmerecke schaukeln.

7 Comments DIE WELT mal wieder über Asperger

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