Oft, wenn über Autisten berichtet wird, erhalten Aussenstehende ein sehr merkwürdiges, weil in sich abgeschlossenes, Bild, über die Regeln denen ein autistisches Leben unterworfen ist. Das liegt, meines Erachtens, auch daran, dass Zeitungs- oder Fernsehbeiträge sich hauptsächlich mit dem defizitären Bild von Autismus beschäftigen. Der Zuschauer oder Leser erfährt, dass Autist Marc dies und jenes nicht kann und Autistin Anja das auch nicht kann – immer mit der Konnotation, dass beide das auch nie können werden.
Durch die Beiträge erscheint der Zwischenstand des Lebenswegs gleichzeitig wie der Anfang als auch das Ende.
Ein Bild entsteht, nach dem die Grenzen des Möglichen immer sehr klar umrissen sind. Als würden, wenn die Grenze der Fähigkeiten oder Belastbarkeit erreicht ist, ein Schild aufklappen, auf dem steht „bis hier hin und nicht weiter“ oder „das kannst du nicht“. Oder, dass man quasi automatisch Dinge nicht mag und scheut, die einem nicht gut tun werden. Oder, dass man dann schon recht schnell erkennt, was einem gut tut und was nicht.
Das ist leider Blödsinn. Kein Autist kommt auf die Welt und erhält als Nachgeburt eine vollständige Bedienungsanleitung, anhand derer er die kommenden Jahrzehnte durchs Leben navigiert. (Was nebenbei eine großartige Sache wäre.)
Und es gibt schon gar keine obere Grenze des Möglichen. Was Autist Marc heute noch nicht meistert, meistert er vielleicht auch nicht morgen aber übermorgen. Oder auch nicht. Bei Autisten ist die Entwicklung verzögert. Nicht die körperliche (abgesehen von der Motorik), selten die intellektuelle, aber sehr oft die emotionale oder soziale Entwicklung.
Autisten mit den Worten „das kannst du nicht, versuche es erst gar nicht“ von etwas abzuhalten, ist demnach eine ziemlich dusslige Idee.
Auf der anderen Seite ist Autismus eine Behinderung, weil Autisten Einschränkungen unterliegen. Nur bekommt man die nicht in einem Nachschlagewerk alphabetisch geordnet überreicht. Erst recht nicht, wenn man bis ins Erwachsenenleben hinein glaubt, man wäre wie alle anderen und sollte also auch alle Dinge tun können, die andere auch tun. Das wird noch dadurch verstärkt, das die gesamte Umwelt die Wahrnehmung eines heranwachsenden Autisten ständig in Frage stellt, wie es beispielsweise Fuchskind im Schattenspringer anhand des fast sauren Quarks so schön erklärt. „Du bildest dir das ein“ dürfte ein Satz sein, den jeder Autist mit schöner Regelmässigkeit zu hören bekommt. Entweder weil die Umwelt die Wahrnehmung nicht teilt, oder weil der Autist mit seiner überscharfen Wahrnehmung Dinge erkannt hat, die diese lieber nicht preisgeben oder wahrhaben will. Bei den fast unausweichlichen Mobbingerfahrungen kommt noch eine weitere Stufe „In Frage stellen“ hinzu. „Er hat das nicht so gemeint“ und „du bist einfach zu empfindlich“. Wessen Einschätzung der Realität ständig in Frage gestellt wird, der kann auch keine vernünftige Selbsteinschätzung entwickeln.
In Retrospektive gab es sehr viele Dinge, die ich besser nicht getan hätte. Dinge die ‚jeder kann‘, Dinge, die normal sind. Alltäglich. Und die ich, in der Lebensplanung einfach schon deswegen vorgesehen hatte, weil sie zu einem normalen Leben dazugehören. Wie zum Beispiel selbstständig leben oder Karriere machen.
Viele, sehr viele dieser ach so normalen Dinge haben mich immer wieder so überfordert, dass eine Depression folgte, die nur mit Medikamenten wieder wegzubekommen ware. Darunter Sachen wie: in ein besetztes Haus ziehen, neben einem 30 Stunden Job die Abendschule besuchen, als Selbstständige im IT-Projektgeschäft arbeiten, auf Demos gehen,Großveranstaltungen besuchen, einen großen Freundeskreis pflegen, eine Veranstaltung organisieren, fest angestellt arbeiten, zuverlässig ein Ehrenamt ausfüllen, ein Projekt über einen längeren Zeitraum betreuen, Projektmitarbeiter koordinieren, anderen Menschen Arbeitsanweisungen geben.
Manches davon habe ich immer wieder versucht und bin immer wieder gescheitert. Aber nie war es leicht zu erkennen, woran das Scheitern nun genau lag. Ob ich es einfach nicht energisch genug versucht hatte (nein, eher hatte ich es zu sehr versucht) oder ob ich es einfach nicht konnte. Und was daran ich genau nicht konnte. So hat es Jahre gebraucht, zu erkennen, dass ich mich von großen Menschenansammlungen und sensorisch überladenen Umgebungen besser fernhalten sollte. Obwohl es doch zu einem normalen Leben dazugehört mit Freunden auf die Kirmes oder ein Volksfest zu gehen. Und ich früher ja auch gerne mitgehen wollte. Es dauerte auch, zu akzeptieren, dass es mich zu viel kostet andere zu unterrichten – obwohl ich es sehr gerne tue. Oder den Wunsch ein Unternehmen zu gründen, zu streichen.
Aber es gibt auch Dinge, die mag ich so gerne, dass ich sie nicht aus meinem Leben entfernen will, obwohl sie eine grenzwertige Belastung darstellen. Konferenzen, Barcamps oder Messen besuchen, beispielsweise oder Vorträge halten. Aber egal wie sehr ich das Erlebnis mag; eine Konferenz am Montag, kann meine Löffel für den Rest der Woche restlos auffressen. Auch zu Arbeiten und nebenberuflich zu studieren, ist eine Gratwanderung{{1}}, die ich in Kauf nehme, weil ich beides so sehr will.
Ständig zu scheitern, und wohl auch in Zukunft immer wieder zu scheitern, war und ist keineswegs lustig. Es waren sehr unangenehme Ereignisse für mich und für mitbetroffene Personen, die ich enttäuscht habe. Aber seit das Kind einen Namen hat und ich besser weiß als früher, worauf ich achten muß, geht es auch aufwärts.
Es wird immer wieder Situationen geben, deren Schwierigkeitsgrad ich vollkommen unterschätze, weil es doch jeder kann – also ich auch. Aber mit jedem Mal Nase blutig schlagen lerne ich meine harten und meine dehnbaren Grenzen besser kennen.
Und scheitere besser.
[[1]](Die mir sehr viel leichter fallen würde, wenn ich die Möglichkeit hätte, auch mal ein Jahr auszusetzen. Habe ich dank Camerons Torys aber nicht mehr.) [[1]]
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Danke für den Artikel. Dass autistisches Scheitern anders ist als normales Scheitern, geht mir seit Jahren im Kopf herum (da war ich von einer Diagnose noch weit entfernt); so gut formulieren können hätte ich es wohl nicht.
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Der letzte Absatz ist in meinen Augen wichtig. DIe Grenzen sind dehnbar. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass mein Umfeld immer eine große Rolle gespielt hat. Ich bin früher an Dingen gescheitert, die heute wesentlich einfacher sind, weil die Leute, die mich umgeben mich (auch wenn nur passiv) unterstützen und ich weiß, dass mein gelegentliches Scheitern als notwendig und hilfreich angesehen wird.
Leider zeigt meine Erfahrung auch, dass oft die Einschränkungen heruntergespielt werden, wie du es auch beschreibst. Sie sind eben nicht so sichtbar und kommen erst ab einem gewissen Niveau zu tragen. Eben, wenn es darum geht, im Wust der Firmenpolitik zu bestehen, Leute zu managen usw. Das habe ich mir, auch wenn ich mich für flexibel halte, abgeschmikt.
Danke!
Ich hatte letztens einen erstklassigen Meltdown aufgrund der erneuten Erkenntnis, dass ich häufiges Scheitern einfach nicht abschalten kann, dass meine Kapazitäten nicht ausreichen, mir ein halbwegs ruhiges Leben zu geben. Nichtsdestotrotz rappel ich mich immer wieder auf. Und ja, das Grenzen besser kennen hilft mir dabei auch. Ich schätze nur, da gibt es noch mehr Grenzen, die mir bisher nicht so bekannt waren.
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Hallo, ich finde mich hier sehr wieder! Freut mich, dass es noch andere Hausbesetzer-Aspi’s gibt.
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