Autismusmythen


Autisten sind männlich, stehen auf Züge und Listen

Ein altes Vorurteil. Tatsächlich kann man bei Männern die typischen Anzeichen oft leichter erkennen. Sie entsprechen eher – aber nicht immer – dem gängigen Klischee. Mädchen werden auch schon im frühen Kindesalter stärker unter Druck gesetzt, für Mädchen erwünschtes Verhalten zu zeigen. Das führt dazu, dass Frauen sehr früh lernen, den Autismus zu maskieren. Sie werden oft erst auffällig, wenn die gesellschaftlichen Anforderungen ab einem Alter von ca. 30 Jahren so zunehmen, dass bisherige Strategien nicht mehr ausreichen und sie krank werden oder ihnen ihr Leben aus den Händen gleitet. Der Irrglaube, nur Männer könnten Autisten sein, führt auch dazu, dass selbst früh sehr auffällige Frauen übersehen oder aktiv ignoriert werden. So berichten spät-diagnostizierte Frauen mit früh als Autisten diagnostizierten Brüdern zum Beispiel darüber, dass sie zwar die gleichen Symptome zeigten, aber man ihnen statt mit Verständnis gegenüberzutreten und eine Diagnostik in die Wege zu leiten, lediglich sagte, sie sollten sich zusammenreißen.
Auch Faszination für Züge ist lediglich ein klischeehaftes Spezialinteresse. Autistische Spezialinteressen können viele Arten und Formen annehmen. Von Musik bis Raumfahrt ist alles dabei.
Und Listen … Verdammt. Ihr habt uns erwischt.

Autisten leben in ihrer eigenen Welt

Nein, leider nicht. Vielleicht mag es so wirken, als würden sich Autisten im Shutdown von der Welt abkapseln und in eine eigene zurückziehen, aber das sind nur Rolläden, ein hauchdünner Schutz zwischen uns und dieser Welt. Es ist diese Welt, die uns belastet. Es ist diese Welt, mit der wir klar kommen müssen. Es ist diese Welt, die wir oft klarer wahrnehmen, als uns lieb ist.

Ein ’schwer betroffener‘, non-verbaler Autist bekommt nichts von seiner Umwelt mit

Das Gegenteil ist der Fall. Das wissen wir, von Autisten, die im Verlauf ihres Lebens entweder begonnen haben zu sprechen oder andere Möglichkeiten fanden, sich ihrer Umwelt mitzuteilen.

Ein ’schwer betroffener‘, non-verbaler Autist wird sein ganzes Leben ein Pflegefall bleiben

Auch das ist falsch. Bei Autisten scheint Entwicklung einmal nicht gleichmäßig zu verlaufen, sondern eher sprungweise und oft auch stark verzögert. Voreilig schlechte Prognosen erweisen sich oft als unzutreffend.

Autisten können nicht kommunizieren

Doch. Nicht jede Kommunikationsweise ist aber für jeden Autisten geeignet. Non-verbale Autisten sprechen nicht, das heißt aber nicht, dass sie nicht kommunizieren. Einige von ihnen können Gebärdensprache lernen, andere kommunizieren über Bildkarten oder Talker. Wieder andere können sich schriftlich sehr eloquent ausdrücken, obwohl sie nicht sprechen können. Auch verbalen Autisten fällt schriftliche Kommunikation immer noch leichter als Sprache. Auch Verhalten ist Kommunikation.

Alle Autisten sind geistig behindert

Früher wurde davon ausgegangen, dass bei non-verbalen (Kanner-)Autisten immer eine geistige Behinderung vorliegt. Eine ähnliche Fehlinterpretation kennt man von Gehörlosen, bei denen hörende Menschen auch Jahrhunderte die Kommunikationsbarriere als geistige Zurückgebliebenheit interpretierten. Tatsächlich liegen auch non-verbale Autisten meist im durchschnittlichen IQ-Spektrum und können ebenfalls hochbegabt sein. Das fand man mit Hilfe von non-verbal orientierten IQ-Tests, wie dem ‚Ravens Matrix‘-Test, heraus. Bei Autisten mit Lernschwierigkeiten spricht man heute von einer Mehrfachbehinderung. (‚Geistig behinderte‘ Menschen möchten „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ genannt werden. Bitte respektiert ihren Wunsch.)

Alle Autisten sind hochbegabt

Einige Autisten sind hochbegabt, die Mehrheit nicht. Es gilt auch hier die Normalverteilung,
Meine These: Hochbegabte Autisten sind sicht- und hörbarer, da ihnen mehr Mittel zur Maskierung ihrer Nachteile zur Verfügung stehen.

Autisten haben eine Inselbegabung

Bei Autisten spricht man zwar oft von einem ungleichen Begabungsprofil – ein Autist kann zum Beispiel extrem gut in Mathe sein aber ein völliger Versager bei Fremdspachen und umgekehrt – aber eine Inselbegabung ist etwas ganz anderes. Von einer Inselbegabung redet man, wenn eine Person, bei allgemeiner Intelligenzminderung in einem Punkt ein ansonsten scheinbar übermenschliches Talent besitzt – zum Beispiel eine Skyline detailgetreu aus dem Gedächtnis abzeichnen kann. Auch viele Autisten halten sich daran fest, eine Inselbegabung zu haben. Für viele bedeutet der Gedanke, zumindest in einem Punkt übermenschlich genial zu sein, Flucht und Hoffnung nach einem Leben voller Ablehnung und Verachtung. Sehr oft sind hervorstechende Talente aber auch rein durch Jahre intensiver Beschäftigung mit autistischen Spezialinteressen erklärbar. Faustregel: Autisten haben Spezialinteressen, keine Inselbegabung.

Autisten lügen nie

Doch, tun wir. Tatsächlich scheint uns Lügen aber schwerer zu fallen, als Nichtautisten, viele Autisten empfinden es körperlich unangenehm und wir sind weniger erfolgreich darin. Sehr oft sehen wir einfach keinen Sinn darin zu lügen. Zum Beispiel in den vielen kleinen Alltagslügen, wie der Frage ‚wie geht es dir?‘ obwohl man keine ehrliche Antwort erwartet.

Autismus ist schlimmer als der Tod

Kein Witz. Einige Autismusforscher reden ernsthaft von einer ‚worse than death condition‘. Damit reden sie vor allem über non-verbale Autisten, zu denen keine Kommunikationsbasis zu bestehen scheint und deren Verhalten oft erratisch und aggressiv wirkt. Meine These: hier wurden den beschriebenen Autisten alte Dogmen übergestülpt, man versuchte ihre Verhaltensweisen abzutrainieren, ohne erst überhaupt ihre Ursache herauszufinden und man versäumte herauszufinden, welche Kommunikationsform für sie machbar ist. Sehr oft wird diese Behauptung benutzt, um Forschung an Pränataltests finanziert zu bekommen. Es riecht dezent nach Eugenik.
Leider leiden aber verbale Autisten oft so sehr unter einer ihnen gegenüber feindselig eingestellten Gesellschaft, dass die Selbstmordrate unter Autisten neun mal so hoch ist, wie unter Nichtautisten.

Autisten nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie wirklich ist. Sie können daher auch politisch und gesellschaftlich nicht mitreden.

Viele Menschen verstehen unter der ‚anderen Wahrnehmung‘ von Autisten, dass diese Halluzinationen haben oder quasi nur ein Zerrbild der Realität erkennen. Tatsächlich besteht die veränderte Wahrnehmung anscheinend vor allem in einer anderen ‚Software‘-Ausstattung, die mehr aus dem herausholt, was uns unsere Sinne zeigen und die weniger filtert. Was wiederum dazu führen kann, dass wir in dem Wust auf uns hereinprasselnder Informationen, die wichtigen übersehen oder überhören, während wir weniger wichtige sehr deutlich wahrnehmen. Beispielsweise wäre da der „Adlerblick“ zu nennen, der überdurchschnittlich häufig bei Autisten festgestellt wird. Heißt, Autisten können Details auch auf Entfernung sehr gut erkennen. Dabei haben sie keine besseren Augen. Die These ist, dass die Wahrnehmungsverabeitung eines Autisten hier einfach mehr aus den auf die Netzhaut treffenden Informationen herausholt.
Persönliches Beispiel: Als Kind galt ich als schwerhörig, was sich nach einem Hörsturz und den folgenden Untersuchungen als nicht zutreffend heraustellte. Als sich mein Gehör vom Hörsturz erholt hatte, bescheinigte man mir ein im Sprachbereich nahezu perfektes Gehör. Auch heute verwundere ich meine Familie damit, einem leisen Gespräch zwei Räume weiter folgen zu können, obwohl im Raum dazwischen ebenfalls geredet wird. (Vor allem, wenn ich das Gespräch eigentlich absichtlich nicht hören sollte.)

Alle Autisten sind 100% logisch und handeln nicht aus dem Bauch heraus

Tatsächlich scheinen Autisten zu logischem Denken zu neigen und es auch zu brauchen, um überhaupt Sinn aus dieser chaotischen Welt zu machen. Dass sie ausschließlich logisch denken würden, ist aber eine Legende. Weniger auf den Bauch zu hören, hat auch nicht nur Vorteile. Bauchentscheidungen machen uns handlungsfähig. Alles zu durchdenken, lässt uns verzögert handeln oder gar davor zurückschrecken. Tatsächlich findet man bei vielen Autisten eine, wie es Mediziner nennen, Entscheidungsschwäche.

Autisten haben keine Emotionen

Doch, haben wir. Sogar so starke, dass sie uns oft quasi den Atem rauben. Inzwischen rankt sich auch eine eigene Autismustheorie darum, dass wir im Gegenteil alles – auch Emotionen – viel stärker erleben, als Nichtautisten. Die ‚Intense World‘-Theorie von Markram, die sich unter Autisten großer Beliebtheit erfreut. (Deren Evidenz aber eher mau ist.) Etwas besser belegt ist das ‚Double Empathy Problem‘. Das besagt quasi, dass Autisten und Nichtautisten zwei unterschiedliche Sprachen sprechen und Nichtautisten ebensowenig in der Lage sind Emotionen von Autisten richtig zu erkennen, wie umgekehrt. Dieses Problem stellt eine große Gefahr für Autisten dar, da man uns auch extreme Not teils lange nicht ansieht. Autisten mit extemen Schmerzen wirken zum Beispiel auf Nichtautisten völlig normal und werden bei Ärzten oder in Krankenhäusern oft nicht ernst genommen. Die Folge sind falsche, verzögerte oder gar verweigerte Behandlung.
Auch ist Alexithymie unter Autisten stärker verbreitet, als in der Normalbevölkerung. Aber auch Alexithymie ist keine Abwesenheit von Emotionen, sondern lediglich die Schwierigkeit die eigenen Emotionen wahrzunehmen und zu beschreiben.

Autisten sind empathielos

Viele Autisten haben tatsächlich Probleme damit, sich in die Beweggründe anderer Menschen hineinzuversetzen. Das heißt, es scheint so, als bestünden Nachteile im Bereich der kognitiven Empathie. Aber mal ganz ehrlich: mein Eindruck ist, Nichtautisten raten da auch eher und liegen nicht selten daneben. Womit Autisten meist gar kein Problem haben, ist die emotionale Empathie. Das heißt: Mitfühlen, wenn andere leiden. Der starke Gerechtigkeitssinn, der Autisten oft (wenn auch nicht immer) korrekterweise nachgesagt wird, entsteht genau durch dieses intensive Mitfühlen. Wie oben erwähnt, haben Autisten aber manchmal Probleme damit, Körpersprache und Mimik von Nichtautisten zu interpretierten. Eben, als würde man unterschiedliche Sprachen sprechen. Ich persönlich kann Lachen und Weinen nur sehr schwer auseinanderhalten. Bei Beidem beben die Schultern, bei Beidem ist das Gesicht verzerrt und der Mund offen, die Geräusche sind ähnlich, bei Beidem können Tränen im Spiel sein und bei Beidem wird manchmal das Gesicht in den Händen verborgen.

Autisten schauen anderen nicht in die Augen, weil sie kein Interesse an ihnen haben.

Autisten schauen anderen nicht in die Augen, weil sie sich sonst nicht auf das Gesagte konzentrieren können.

Autisten gibt es erst seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts

Im vergangenen Jahrhundert wurde Autismus zum ersten Mal beschrieben, aber natürlich gab es Autisten sehr wahrscheinlich schon immer. Vorher wurden non-verbale Autisten einfach ‚debil‘ oder ‚zurückgeblieben‘ bezeichnet und siechten oft in Irrenanstalten dahin. Verbale Autisten galten als ungezogen und wurden sehr oft mit Prügeln gebrochen. Hochbegabte Autisten oder Autisten in den höheren Gesellschaftschichten, galten als exzentrisch oder genial, sie hatten das Geld oder lebten in familiären Zusammenhänge, in denen es möglich wahr, sich ganz auf ihre Interessen zu konzentrieren und den Alltag von anderen regeln zu lassen.

Autismus ist eine Epidemie

Diese Legende wird vor allem von jenen geführt, die mit der Angst vor Autismus eine Agenda verfolgen. Zum Beispiel von Impfgegnern, Esoterikern und leider auch Tier- und Umweltschützern.
Tatsächlich lässt sich der Anstieg der Autismusdiagnosen und das stärkere Bewusstsein in der Bevölkerung auf wenige Faktoren zurückführen: 1. Eine großangelegte, weltweite ‚Awareness‘-Kampagne des Elternvereins „Autism Speaks“, dessen Mitgründer vorher im Vorstand eines große US-Medienkonzerns saß. 2. Eine Erweiterung der Diagnosehandbücher in den 90er Jahren um das „Asperger-Syndrom“ 3. Ein dadurch allgemein höheres Bewusstsein um die Existenz von Autismus in der Bevölkerung und verstärkte Suche nach Diagnostik als auch ein stärkeres Bewusstsein um die Existenz von Autismus unter Fachleuten, wie Ärzten, Erziehern und Psychologen.
Wie beim Bekanntwerden jeder neuen Diagnose wird sicherlich derzeit auch Autismus manchmal überdiagnostiziert, tatsächlich dürfte es aber noch mehr Autisten geben, die keine Diagnose oder eine falsche Diagnose haben, denn immer noch ranken sich zu viele Klischees um das Thema und qualifizierte Diagnosestellen sind rar gesät.
Non-verbale Autisten waren immer schon Autisten. Früher wurden sie aber viel häufiger als ‚geistig zurückgeblieben‘ diagnostiziert. Tatsächlich nahm die Diagnoserate ‚geistige Behinderung‘ im selben Maße ab, wie die Rate der Autismusdiagnosen zunahm.
Verbale Autisten galten oft nur als schlecht erzogen, faul, dumm oder absichtlich unhöflich. Viele wurden ausgegrenzt und die meisten blieben lebenslang unter ihren Möglichkeiten.
Lehrer, Erzieher und andere, die sagen: Früher gab es keine Autisten in meiner Klasse/Gruppe etc. Vergessen, dass ‚zurückgeblieben‘ Autisten in Behindertenheime abgeschoben wurden und sie diese somit nie zu sehen bekamen. Jeder, erst im Erwachsenenalter diagnostizierte, Autist kann von den Kommentaren von Kindergärtnern, Lehrern oder anderen Menschen berichten, welche ‚alternativen‘ Theorien diese für das anscheinend absonderliche und unerklärliche Verhalten von Autisten in ihren Klassen oder Gruppen hatten. Dumm, faul, rücksichtslos, unhöflich, Abschaum, ungeschickt, unsportlich, lahm, ‚könnte, will aber nicht‘, ‚will keine Freunde haben‘, ‚will sich nicht anpassen‘ sind nur einige der Attribute, die den meisten spätdiagnostizierten Autisten über die Jahre zugedacht wurden.
Viele Autisten gab es immer (mindestens 1:100). Inzwischen können sie eine Diagnose erhalten und das ist eine gute Sache.

Autismus entsteht durch Impfungen, Paracetamol in der Schwangerschaft, Feinstaub, Amalgam in den Zähnen der Eltern, Milch, Gluten, Parasiten oder Vitamin-D-Mangel

Nein.

Autisten haben eine niedrige Frustrationstoleranz

Dieses sehr schmerzhafte und schädliche Vorurteil existiert vor allem in den Köpfen von Fachpersonal und Eltern. Es ist Vorurteil, das durch die reine Aussensicht entsteht, bei der Autisten scheinbar schon durch geringste Anlässe aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Diese Außensicht ignoriert, wie es ist in einer Welt zu leben, in der Menschen ständig unlogisch handeln, Dinge sagen, die sie gar nicht so meinen, ständig Hintergedanken haben und in der ein unentwegter Strom extremer und kaum gefilterter Sinneseindrücke auf Autisten einprasselt. Diese Welt ist verstörend, bedrohlich und einfach viel zu viel. Bis ein Autist in den Melt- oder Shutdown gerät, bis der, für Außenstehende ‚unerklärliche‘ Zustand ‚aus heiterem Himmel‘ eintritt, hat sich bei Autisten meist über Tage oder Stunden ein Druck aufgebaut, der dann nicht mehr kontrolliert werden kann. Die Folge sind Meltdowns (oft mit Wutausbrüchen verwechselt) und Shutdowns, bei denen der Autist nicht mehr ansprechbar erscheint.

Autisten sind nur schlecht erzogen und brauchen lediglich eine harte Hand

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung mit Auswirkungen auf die soziale Interaktion, die Wahrnehmung und die Kommunikation. Die Welt ist nicht lauter, heller, chaotischer für uns, weil wir schlecht erzogen sind, sondern weil sie lauter, heller und chaotischer ist. Daraus ergeben sich Verhaltensweisen, die für andere schlecht erzogen wirken können. Ein autistisches Kind, das auf dem Spielplatz schreiend um sich schlägt, ist meist nicht schlecht erzogen, sondern in Not. Auch wenn die Ursache der Not für nichtautistische Erwachsene nicht zu erkennen ist. Autisten, die sich aus einem belanglosen Gespräch zurückziehen, sind nicht ungehobelt, ihre Kraft den Sinn aus inhaltsleeren Phrasen herauszufinden, ist einfach aufgebraucht.
Natürlich kann man auch Autisten durch Brutalität und schwarze Erziehung beibringen, sich so zu verhalten, wie es andere von ihnen erwarten. Sie werden zu stark maskierenden Autisten. Sie leiden schweigend und ihnen wurde die Möglichkeit genommen, sich belastenden Situationen zu entziehen. Sie sind immer noch Autisten, aber unglückliche und oft auch sehr früh tote Autisten.

Autisten kann man heilen in dem man ihnen nur mal zeigt, wie es geht nicht autistisch zu sein

Dieses extrem schädliche Vorurteil findet man vor allem in der medialen Darstellung. Zum Beispiel in ‚Fack ju Göthe 2‘, wo der Autist nur mal ins Wasser geworfen werden muss, um sich anschließend normal zu benehmen. Auch die vielkritisierte Serie „Ella Schön“ scheint darauf hinzuarbeiten, dass Ella irgendwann erkennen wird, dass sie sich nicht autistisch verhalten muss, wenn sie nur genug geliebt wird. Tatsächlich erleben viele Autisten jahrelanges Mobbing und auch teils sehr bedrohliche Situationen, die dazu führen, dass sie ihr Autistisch-Sein stärker verbergen, also maskieren. Das Maskieren kostet enorme Energie und ist wahrscheinlich ein Faktor, der mit zu der hohen Selbstmordrate führt. Wer also glaubt, einen Autisten durch drastische Maßnahmen zum Nicht-Autisten machen zu müssen, gefährdet dessen Leben.

Autisten müssen zwanghaft Rituale einhalten

Autistische Rituale werden oft mit Zwängen verwechselt, weil viele Autisten heftig reagieren, wenn ihre Rituale durcheinandergebracht werden. Ein Zwang verursacht aber Leidensdruck, ein autistisches Ritual nicht. Rituale bieten auch für Nichtautisten Sicherheit und etwas Gewohntes in einer hektischen Welt. Viele brauchen es, ihren Tag mit einer Tasse Kaffee zu starten und haben das Gefühl, dass der ganze Tag aus den Fugen gerät, wenn das Morgenritual gestört wird.
Auch für Autisten sind Rituale eine Art Geländer in einer chaotischen Welt. Sie geben Sicherheit und kosten weniger Kraft als unstrukturierte Tage. Werden die Rituale gestört geht der Schutzmechanismus verloren. Die Belastung steigt dann oft so stark an, dass es zu einem Meltdown oder Shutdown kommen kann.

Autisten haben Ticks

Es gibt Autisten, die auch Ticks haben. Die Mehrheit der Autisten, zeigt stereotype Verhaltensweisen, die aber keine Ticks sind. Sie dienen der Selbststimulierung und helfen dabei inneren Druck abzubauen. Manchmal können diese Stereotypien auch selbstverletztend sein. Statt zu versuchen, die Stereotypien zu unterdrücken, sollte man versuchen herauszufinden, was sie auslöst und wie man Autisten entlasten kann.

Autismus ist, menschliches Miteinander, anderen in die Augen zu schauen oder das Erkennen von Mimik nicht richtig gelernt zu haben

Auf diesem Vorurteil basieren extrem viele ‚Hilfen‘ und Interventionen. Ob es eine Ausbildung speziell für Autisten (natürlich in der IT) ist, mit extra Stunden für Verhaltenstraining, ob es ein gruseliger Roboter ist, der Kindern den Umgang mit anderen Menschen beibringen soll, ob es eine Brille ist, die erklären soll, was das Gegenüber gerade fühlt oder ob es eine App ist, mit der man das Erkennen von Gesichtsausdrücken üben kann. Alle gehen davon aus, dass Autisten irgendwann mal verpasst haben, dieses Fähigkeiten zu erlernen, und man das quasi nachholen kann und sollte. Eine ganze Forschungsrichtung baut auf der Theorie auf, dass Autisten kein Interesse an anderen Menschen haben, sie diese deswegen schon als Kleinkinder nicht richtig ansehen und dadurch Mimik und Gestik nicht richtig erkennen lernen.
All diese Angebote und Theorien zusammen, ignorieren, dass Autisten ein Problem haben, wenn zu viele Informationen auf sie einprasseln, für die ihnen die notwendigen Filter fehlen. Autisten darauf zu trainieren, mehr Informationen besser zu erkennen, ist daher kontraproduktiv. Auch ignorieren Anhänger dieser Thesen und Methoden, dass auch ihre eigene Kommunikation, Mimik und Körpersprache nicht so eindeutig, so logisch oder klar ist, wie sie selbst gerne glauben. Ein Mensch, dem gerade fassungsloser Unglaube auf das Gesicht geschrieben steht, sieht fast genauso aus, wie ein Mensch der milde lächelt.
Was Autisten wirklich helfen würde, ist klare und eindeutige Kommunikation. Und wie bei fast allem, das wir „Inklusion“ nennen, wäre klare und eindeutige Kommunikation gut für alle. Es würden viel weniger Mißverständnisse entstehen und das auf allen Ebenen und in allen Lebensbereichen. Denn mal ganz ehrlich. Die meisten Nichtautisten kommunizieren richtig schlecht.


Dieser Text erschien zuerst als Gastbeitrag auf einem anderen Blog.


2 Comments Autismusmythen

  1. Viktualia

    „wäre klare und eindeutige Kommunikation gut für alle.“
    Mela, ich bin dir sehr, sehr dankbar.

    Vor ein par Wochen, als ich anfing, mich für „ABA“ zu interessieren, ging es mir ja noch um etwas ganz anderes (den Standpunkt der „Skeptiker“ zu verstehen).
    Inzwischen halte ich diesen „Aktivismus“, den ihr betreibt, für wertvoller als FfF. (So ganz persönlich, aber aus tiefstem Herzen empfunden.) Weil ihr auf eine Weise für das zwischenmenschliche „Klima“ eintretet, die ich als sehr wahrhaftig erlebe.

    -„kann Lachen und Weinen nur sehr schwer auseinanderhalten.“
    Wenn alle Neurotypischen erfassen könnten, dass Weinen und Lachen der gleichen Quelle entspringen (beide mit denselben tieferen Hirnarealen assoziiert sind), wäre die Welt ein besserer Ort. Für uns alle.
    (Hauptsache, du wirst nicht übergriffig; für den Rest ist das Gegenüber eigentlich selber zuständig.)

    -„Entscheidungsschwäche“ – das kann ich dir nicht ganz abnehmen. „Logik“ sorgt für sich selbst, die gibt es nur zu 100%. (Die Aussage, etwas sei zu weniger als 100% logisch ist unlogisch, das geht so nicht.)
    Meinst du einen Kollaterlaschaden des Perfektionismus? Oder der Dressur? Das wäre beides möglich.
    Intelligenz erhöht die Wahlmöglichkeit, aber wie man damit umgeht, ist Angewohnheit, was man sich halt zutraut.
    Mir reicht es oft, den „Handlungsbedarf“ zu bedenken – bzw. zu schauen, ob (bzw. in welcher Form) die Frage (nach dem Bedarf) gestellt wird. (Ich muss mich evtl. gar nicht dazu entscheiden, mich sofort zu entscheiden. Und unter Zwang entscheidet jeder schlechter.)

    Neurotypische weichen Entscheidungen aus, weil sie mit dem Konzept Verantwortung nicht klar kommen. Das ist aber eben nicht neurologisch, sondern konditioniert. Die „normale Dressur“.
    (Eine gewisse Abneigung dagegen, etwas ein zweites Mal zum ersten Mal zu machen mag „typisch“ sein, dürfte aber doch der Einsicht zugänglich sein. Oder hab ich es falsch verstanden?)

    Die „Abneigung, etwas auszuprobieren“ ist nicht wirklich ein Problem der Entscheidungsfähigkeit, aber sehr hinderlich beim Training.
    (O.K., ich will dich grad ändern. Aber deine Argumentation kommt halt nicht hin; du bist nicht „nur ein bisschen dumm“, du bist helle.)

    „Denken“ ist mein Fachgebiet. (Eigentlich ja „Handeln“, bzw. das Werk. Ergo-Therapie.)
    Darum noch eine Frage, vielleicht ein Widerspruch:
    -„Autisten darauf zu trainieren, mehr Informationen besser zu erkennen, ist daher kontraproduktiv.“
    Versteh ich nicht, so ein „Training“ funktioniert bei Menschen nur über Zusammenhänge.
    Darum macht Autismus doch überhaupt nur Probleme, weil „Denken“ nur im Zusammenhang (dem Inneren) geschehen kann. Und da Störfunk erst ausgeschaltet werden muss, bei normalen Kindern ja auch. (Bei Krach, voller Blase, Juckreiz oder leerem Bauch kann keiner besonders gut klar denken, auch neurotypische Erwachsene nicht.)
    Kein Training klappt ohne „eigenes Interesse“. Und dann erkennt man „mehr und besser“, egal, was – oder wer – es ist. (Der Behaviorismus kann nicht zaubern, das hatten wir doch klar. Empfindungen sind und bleiben subjektiv – aber Sinne sind etwas anderes als Gefühle. Da sehe ich die Unklarheiten.)

    „Entwicklung“ bezieht sich darauf, dass neben dem Kognitiven und Sozialen das Sensorische „integriert“, also zweckgemäß verschaltet wird. Und so ne neuronale Verschaltung passiert automatisch – und von der Qualität der Umgebung unabhängig. Die Umgebung kann nur stören oder zulassen, aber nix „machen“.

    Natürlich macht „viel stören oder viel zulassen“ (fordern oder fördern) dann auch einen qualitativen Unterschied – und für mich formulierst du da den Anspruch auf „klare Kommunikation“ weg – also das imA. eigentlich trainierende: die „reibungslose Auswertung“ der neuronalen Aktivität in ihrem eigenen Zusammenhang.
    Und das versteh ich nicht, bzw. lehne den Gedanken ab.
    („Hirn“ ist ja schon irgendwie „100% Computer“, aber Angst hat auch immer Vernunft verhindert.)
    Man kann da keine Effektivität erhöhen, ohne auf subjektive Störungen einzugehen, das ist funktional nicht drin, egal ob vorher gestört oder vorher normal.

    Das ist ja auch der Punkt, wo ABA so irrational wird und Sinnesempfindungen mit „beherrschbaren“ Gefühlen gleichsetzt.

    Oder lass ich mich von was Paradoxem triggern?
    „Perfektionismus“ funktioniert doch auch so: du kannst was und alles folgende geht immer leichter und lustvoller, ein Effekt der „Zusammenhänge“ (wenn es nicht zwanghaft wird; bzw. darum kann „Zwang“ auf unserer Hardware funktionieren, denk ich.)

    Aber es ist „integrierte Software“, dass es als „leichter und leichter“ empfunden wird (Wissen aufeinander aufbaut), wenn man mit etwas „wirklich vertraut ist“ (alle Parameter integriert sind) – allerdings ein Vorrecht Erwachsener. Kinder haben noch Spaß daran, (alles) einfach auszuprobieren.
    Und unsere Gesellschaft verbietet ja nicht nur Kindern, Spaß zu haben.

    Hast du da was verwechselt? Oder geht mein Idealismus mit mir durch?
    Hältst du unsere Gesellschaft für „Aufgeklärt“ (Kant)? Ich denke nicht, dass es Neurotypischen leicht fiele, selber zu denken, oder dass wir Kultur darin hätten, Informationen sauber auswerten zu können.

    Wahrscheinlich reagiere ich so, weil das ein weitere Anspruch ist, der uns Allen zugute kommen würde, weil „Denken lernen“ halt neuronal nur als „mehr Informationen besser erkennen“ funktioniert.
    Und das Zulassen zu können wäre ein Gewinn.

    Darum meine Worte – aber lass dir bitte Zeit mit allem, ich seh es halt grundsätzlich so.
    (Du meintest sicher „ein Ende der Dressur“. Aber „Keine Macht dem Behaviorismus“ wäre Zauberei. Prägung prägt Neuronen, auch wenn die meisten Erwachsenen ihre eigenen Gefühle nicht beherrschen können.)
    Ich fürchte, ich seh uns „Neurotypische“ als Kinder, die nicht wirklich wissen, wie „Erwachsen sein“ geht, Kindsein auch nicht. Eine „Entwicklungsheilung“ können wir alle brauchen.

    Nochmal: Danke!

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  2. Viktualia

    „Und unsere Gesellschaft verbietet ja nicht nur Kindern, Spaß zu haben.“
    Verzeihung, was für ein Unsinn.

    Ich hab das Paradoxe nicht aufgelöst – unsere Gesellschaft erschwert es nicht nur Kindern, Spaß zu haben, auch Erwachsenen, vernünftig zu sein.

    Bei der „Integration von Gefühlen“, die man theoretisch selbst beherrschen kann, treten halt andere Gesetzmäßígkeiten auf als bei den Sinnen, die sind „echter“, was die Subjektivität angeht.

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